News

Junge Frauen auf dem Vormarsch: Immer mehr Ärztinnen übernehmen die Hausarztpraxen

Viele Mediziner stehen kurz vor dem Ruhestand, Nachfolger fehlen. An der neuen Medizinfakultät machen Hausärztinnen wie Dr. Bettina Leeuw Lust auf den Beruf. Der liegt künftig eindeutig in den Händen junger Frauen.

In Bielefeld sind rund 37 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte mehr als 60 Jahre alt. Die Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) zeigen den Notstand: Mehr als ein Drittel der Bielefelder Hausärzt:innen steht vor dem Ruhestand. Weil sie ihre Patienten nicht im Stich lassen wollen, arbeiten einige bis jenseits der 70 weiter. Denn es fehlen Nachfolger:innen. Ändert sich nichts, drohen in Zukunft Praxisschließungen. Bielefelds neue Medizinische Fakultät soll dagegen halten – mit einem innovativen Schwerpunkt bei der Allgemeinmedizin, der an Medizinfakultäten deutschlandweit einmalig sei, sagt Studiendekanin Dr. med. Anja Bittner. ''Wir ermöglichen umfangreiche praktische Einblicke in die ambulante ärztliche Versorgung und fokussieren auch in den Lehrveranstaltungen nicht nur die stationäre, sondern auch die ambulante Perspektive auf ärztliches Handeln.“

Ambulante Versorgung im Fokus an der Medizinischen Fakultät
Dies ermöglichte es Veronica Hein (23), Medizinstudentin an der Universität Bielefeld, schon in den ersten drei Semestern zweimal eine Woche in der Hoberger Lehrpraxis Ausbilderin Dr. Bettina Leeuw über die Schulter zu schauen. Sie hat erste Patientengespräche geführt, erlebt, dass viele Patientinnen und Patienten mit mehr als einer Krankheit kommen und wie groß das Spektrum der Behandlungen ist. ''Innerhalb eines Vormittags hatte ich mit fünf verschiedenen Disziplinen zu tun. Das war für mich sehr spannend und auch motivierend“, sagt die 23-Jährige. Ihr Blick habe sich bereits nach zwei Wochen in der Gemeinschaftspraxis von Bettina Leeuw in Hoberge komplett verändert. „Ich dachte, Hausärztin zu sein sei langweilig, dass man nur mit Bauchschmerzen und Erkältungen zu tun hat – und war total überrascht.“, so Hein. Die ambulante Ausrichtung des Studiengangs trage Zeitgeist und Realität Rechnung, erklärt Hausärztin Leeuw, die neben ihrer Praxistätigkeit auch an der Medizinischen Fakultät angestellt ist und in der Allgemein- und Familienmedizin Aus- und Weiterbildungsprogramme mitentwickelt. ''Wir haben in der Medizin seit Jahren einen Trend hin zur Ambulantisierung. Die Patienten werden immer früher aus den Kliniken nach Hause geschickt. Schon jetzt erfolgt 80 Prozent der Versorgung von Patienten ambulant.“

Jeder zweite deutsche Hausarzt ist eine Frau
Doch die Ausbildung spiegelt das seit Jahrzehnten nicht wieder. Sie selbst habe während ihres Medizinstudiums vor gut 30 Jahren nie eine Hausarztpraxis von innen gesehen, sagt Leeuw. ''Der Hausarztberuf galt unter Ärztinnen und Ärzten lange nur als Ausweg aus der Klinik, nicht als bewusstes Ausbildungsziel.“ Wer sich dafür entschied, tat dies oft, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können. Das sei ein Pluspunkt bei der ambulanten Arbeit, findet auch Leeuw, die selbst Mutter von drei Kindern ist. In ihrer Praxis würden einige Ärztinnen und Ärzte mit kleinen Kindern in Teilzeit arbeiteten, insgesamt seien die Arbeitszeiten flexibler. Nachtschichten gäbe es in ihrer Praxis nicht. Das mache den Beruf vor allem (aber nicht nur) für junge Frauen zusätzlich attraktiv, die zunehmend die Primärversorgung in niedergelassenen Praxen übernehmen – als Internistinnen, Allgemeinmedizinerinnen oder Kinderärztinnen. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung war 2022 erstmals jeder zweite deutsche Hausarzt eine Ärztin. Geschuldet sei das auch einem allgemeinen Trend in der Medizin, sagt Bittner. ''Zwei Drittel der Studienanfängerinnen und -anfänger sind mittlerweile Frauen.“

''Wir benötigen 300 Lehrärztinnen und -ärzte, um die praktische Ausbildung zu sichern.“
Doch was geblieben ist, ist das alte Imageproblem. ''Auch ich hatte Vorurteile und dachte, die Allgemeinmedizin kratzt nur an der Oberfläche“, sagt Studentin Hein. ''Ohne die Zeit in der Praxis von Frau Leeuw hätte ich mich nicht so sehr dafür interessiert.“ Jetzt kann sich die junge Ahlenerin vorstellen, später einmal als Hausärztin zu arbeiten.  Unterdessen steht die Medizinische Fakultät vor der doppelten Herausforderung, einerseits Studierende für den Praxisalltag zu begeistern und andererseits die ohnehin ausgelasteten Hausarztpraxen als Ausbildungspartner zu gewinnen. 107 Lehrärztinnen und -ärzte sind laut Studiendekanin Bittner an der Uni Bielefeld zertifiziert worden. Doch das werde nicht reichen, wenn die Zahl der Erstsemester in 2025 von bisher 60 auf 300 pro Jahrgang ansteigt. ''Wir benötigen 300 Lehrärztinnen und -ärzte, um die praktische Ausbildung zu sichern.“ Dafür leistet unter anderem Hausärztin Leeuw Überzeugungsarbeit. Sie weiß aus eigener Erfahrung: ''Es kann sehr bereichernd sein, sein Wissen an Studierende weiterzugeben.“

Quelle: Junge Frauen auf dem Vormarsch: Immer mehr Ärztinnen übernehmen die Hausarztpraxen – Neue Westfälische